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29.04.2022

„Was braucht der Mensch, um glücklich und zufrieden zu sein?“

Rummelsberger Diakonie holt Berliner Expertin Sabine Zepperitz für neuen Ansatz in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung und Autisten – große Schulung in Altdorfer Wichernhaus.

Altdorf – Kleine Mädchen tragen rosa Prinzessinnenkleider und erwachsene Menschen bekommen an der Supermarktkasse einen Trotzanfall? Was ist normal? „Beides!“, sagt Diplom-Pädagogin Sabine Zepperitz (50) und vertritt damit den entwicklungspsychologischen Ansatz in der Behindertenhilfe. Welche emotionalen Bedürfnisse ein Mensch hat, bestimmt sie mit dem Diagnostikmanual SEED, das sie mit Kolleg*innen entwickelt und erforscht hat. Zepperitz wird am 13. und 14. Mai im Betsaal des Wichernhauses 30 Mitarbeitenden der Rummelsberger Diakonie die Arbeit mit diesem Ansatz vermitteln. Heilpädagogin Anna-Lena Deeg (30) setzt die SEED-Diagnostik bei ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Unterstützte Kommunikation 18 plus der Rummelsberger Behindertenhilfe bereits ein. Im Interview berichten beide von Erfolgen und Erfahrungen.

Frau Zepperitz, was ist die SEED?
Sabine Zepperitz: Verhalten wird durch Emotionen gesteuert. Bei Menschen mit Entwicklungsverzögerungen, also einer geistigen Behinderung, ist auch die Entwicklung ihrer Emotionen beeinträchtigt. Die SEED (Skala der Emotionalen Entwicklung-Diagnostik) ist ein Diagnostikinstrument, mit dem man ermitteln kann, welche emotionalen Bedürfnisse bei einem Menschen im Vordergrund stehen. Diese werden mit der normgerechten kindlichen Entwicklung verglichen. So kann ein erwachsener Mensch mit geistiger Behinderung Bedürfnisse zeigen, die man bei jüngeren Kindern kennt: Er möchte zum Beispiel umarmt werden. In der Betreuung muss dies berücksichtigt werden, damit sich der Mensch wohl fühlt und ein glückliches Leben hat.

Was ist das Neue an diesem Ansatz?
Sabine Zepperitz: Die entwicklungspsychogische Sicht war in der Heilpädagogik schon in den 70ern ein Thema, wurde aber unter dem Aspekt der „Infantilisierung“ erwachsender Menschen kritisch gesehen. Das entwicklungspsychologische Modell „Schema der emotionalen Entwicklung“ (SEO) nach Anton Došen wurde Anfang der 2000er in Deutschland erstmalig publiziert. In den Niederlanden und in Belgien wird schon länger damit gearbeitet. Ursprünglich war SEO ein reiner Interviewleitfaden für Teamsitzungen. Wir haben das Instrument in einer europäischen Forschungsgruppe so weiterentwickelt, dass es nun als Diagnostikmanual diagnostischen und wissenschaftlichen Kriterien entspricht. Das Ergebnis ist die SEED.

Werden die Vergleiche von erwachsenen Menschen mit Behinderung mit Kindern ohne Behinderung nicht auch kritisch gesehen?
Sabine Zepperitz: Natürlich ist diese Kritik ernst zu nehmen. Aber durch gesellschaftliche Entwicklungen wie das Bundesteilhabegesetz BTHG, die UN-Behindertenrechtskonvention und die Empowerment-Bewegung werden Menschen mit Behinderung heute zunehmend als Erwachsene wahrgenommen, die das Recht auf Selbstbestimmung haben. Im Rahmen der Selbstbestimmung muss den Menschen auch zugestanden werden, erwachsen zu sein und kindliche Bedürfnisse zu haben! SEED vergleicht auch keine Menschen. Es werden emotionale Bedürfnisse verglichen.

Frau Deeg, wie sind Ihre Erfahrungen mit der SEED-Diagnostik?
Anna-Lena Deeg: Ich habe bisher sehr gute Erfahrungen mit der SEED-Diagnostik gemacht. Ich kenne das Verfahren schon aus meiner Ausbildung zur Heilpädagogin und wende es seit dem vergangenen Jahr in der Beratung zur Unterstützen Kommunikation an. Häufig bekomme ich Feuerwehranrufe von Kolleg*innen, wenn sie mit Bewohner*innen nicht mehr weiterwissen. So kam ich beispielsweise zu einem Team, das einen autistischen jungen Mann begleitet. Er wirkte sehr angespannt, das äußerte sich in aggressiven Verhaltensweisen. Im Team haben wir das Diagnostikmanual, wir sagen den SEED-Fragebogen, durchgesprochen und herausgefunden, dass seine emotionalen Bedürfnisse vergleichbar sind mit denen eines Kindes in der „Fremdelphase“. Somit war klar, dass der Fokus auf der Bindung zur Bezugsperson liegen muss. Der junge Mann wollte nicht allein sein. Auf dieses Bedürfnis gehen die Mitarbeiter*innen nun ein und der junge Mann ist zufrieden, weil seine Wünsche erfüllt werden.   

Was bringt die SEED?
Anna-Lena Deeg: SEED bringt, dass Menschen mit Behinderung in unseren Einrichtungen selbstbestimmter leben können. Die Mitarbeiter*innen können sie besser verstehen und besser auf die Klient*innen eingehen. Viele Menschen mit Behinderung zeigen ein irritierendes Verhalten. Sie wirken zum Beispiel im Alltag fit, aber verzweifeln regelrecht, wenn ein bestimmtes Objekt nicht in greifbarer Nähe ist. Als ich noch auf der Wohngruppe gearbeitet habe, habe ich einen älteren Mann begleitet, der sehr an seinem Fotoalbum hing. Wir mussten es immer sofort suchen und da fiel es mir schon schwer, immer geduldig zu sein. Dank SEED habe ich begriffen, dass seine Objektpermanenz nicht voll entwickelt ist. Das bedeutet, er glaubt, das Fotoalbum sei für immer verschwunden; das erklärte mir die Bedeutung des Fotoalbums und ich habe ihn verstanden.  

Frau Zepperitz, Sie sind Pädagogin und führen Diagnostik durch. Wollen Sie pädagogische Mitarbeiter*innen ermutigen, in der Diagnostik aktiver zu werden?
Sabine Zepperitz: Diagnostik bedeutet zunächst, standardisierte Verfahren anzuwenden. Das sollten sich Pädagog*innen generell mehr zutrauen, um für ihre tägliche Arbeit einen fachlichen Hintergrund zu haben. Mitarbeiter*innen, die mit SEED arbeiten, sollten sich in der Entwicklungspsychologie auskennen und sie müssen das Diagnostikmanual kennen. Daher empfiehlt es sich dringend, eine SEED-Weiterbildung zu besuchen. Wir sind sehr daran interessiert, dass SEED in den Einrichtungen angewendet wird. Das ist auch sehr gut möglich, weil es ein sehr praxisorientierter Ansatz ist, der das Thema Inklusion unmittelbar betrifft: Was braucht der Mensch, um glücklich und zufrieden zu sein?

Was raten Sie Einrichtungen, die SEED einführen?
Sabine Zepperitz: SEED ist ein Grundlagenkonzept und sollte von der Leitung getragen werden. Mitarbeitende brauchen eine Einführungsfortbildung, wie ich sie z. B. für die Rummelsberger Diakonie Anfang Mai in Altdorf halte. Ich erkläre den Ansatz und die Haltung, die dahintersteckt. Dann braucht es Moderatoren, die mit den Teams in den Einrichtungen die Erhebungen durchführen. Am besten ist es, wenn es mehrere Moderatoren gibt, die z. B. eine Arbeitsgruppe bilden, um sich zusammen weiter in den entwicklungspsychologischen Ansatz einzuarbeiten und kreative Ideen für den Alltag entwickeln. Eine Grundlage kann hier unser Buch „Das Alter der Gefühle. Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung“ von Tanja Sappok und Sabine Zepperitz sein.

Zur Person

Sabine Zepperitz hat Erziehungswissenschaften an der TU Berlin studiert. Als pädagogische Leiterin am Berliner Behandlungszentrum (BHZ) für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge erweitert sie mit ihrem Team die psychiatrische Behandlung um den pädagogischen Blick. In einer europäischen Forschungsgruppe um PD Dr. Tanja Sappok, der Chefärztin des Berliner BHZ, haben sie die SEED weiterentwickelt und forschen hierzu intensiv.


Von: Heike Reinhold

Anna-Lena Deeg (rechts) begleitet in der Rummelsberger Behindertenhilfe ein Teammeeting, bei dem für einen Bewohner ein SEED-Diagnostikmanual durchgesprochen wird. Foto: Kevin Kellermann